08.01.2010

Städtebau und Architektur in den 70ern

"Das Haus in der Bahnhofstraße steht heute nicht mehr. Ich weiß nicht, wann und warum es abgerissen wurde. Über viele Jahre war ich nicht in meiner Heimatstadt. Das neue Haus, in den siebziger oder achtziger Jahren gebaut, hat fünf Stockwerke und einen ausgebauten Dachstock, verzichtet auf Erker oder Balkone und ist glatt und hell verputzt. Viele Klingeln zeigen viele kleine Apartments an. Apartments, in die man einzieht und aus denen man auszieht, wie man Mietwagen nimmt und abstellt. Im Erdgeschoss ist derzeit ein Computerladen; davor waren dort ein Drogeriemarkt, ein Lebensmittelmarkt und ein Videoverleih.
Das alte Haus hatte bei gleicher Höhe vier Stockwerke, ein Erdgeschoss aus diamantgeschliffenen Sandsteinquadern und drei Geschosse darüber aus Backsteinmauerwerk mit sandsteinernen Erkern, Balkonen und Fensterfassungen. Zum Erdgeschoss und ins Treppenhaus führten ein paar Stufen, unten breiter und oben schmaler, auf beiden Seiten von Mauern gefasst, die eiserne Geländer trugen und unten schneckenförmig ausliefen. Die Tür war von Säulen flankiert, und von den Ecken des Architravs blickte ein Löwe die Bahnhofstraße hinauf, einer sie hinunter. [...]"

Dieses Textausschnitt ist dem Buch "Der Vorleser" von Bernhard Schlink entnommen.
Es beschreibt exemplarisch sehr gut, wie selbst noch in den 70er und 80er Jahren historische Gebäude dem Modernisierungswahn weichen mussten.
Und es beschreibt auch sehr gut, was für architektonische Maßstäbe bei Neubauten galten: glatt, schlicht, einfach, möglichst viele Wohnungen auf dem vorgegebenem Raum. Ein großer Teil der Nachkriegsarchitektur ist so gehalten. Diese Bauweise bzw. Gestaltung von Gebäuden führt zu der im Zitat beschriebenen Anonymität oder Austauschbarkeit des Gebäudes (Menschen ziehen oft ein und aus, der Laden wechselt häufig usw), was wiederum zu gesichtslosen, austauschbaren (Innen-)Städten führt.
Damit einher geht auch ein Identitätsverlust.
Die moderne Architektur sollte sich wieder mehr darum bemühen, Gebäude zu entwerfen, in denen man sich gerne aufhält oder wohnt, in denen man sich wohlfühlt.

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